Erlebt und aufgeschrieben von Zwinki (zwinki2 @ gmx . de)
Der Titel klingt seltsam - zugegeben. Mein Problem war folgendes: Der Versuch, - möglichst am 21.12. - endlich mal im Winter 200km mit dem Rennrad zu fahren, fiel ins Wasser oder besser gesagt in den Schnee. Ich ahnte es schon und hatte gar keine Form erst aufgebaut :-) Außerdem ist der einzige Kumpel, der so etwas mitmacht, seit längerer Zeit vakant (er meldet sich aller 3 Monate voller Hoffnungen und dann wieder gar nicht mehr). Ach ja, und außerdem mußte ich um diese Zeit sowieso nach Bayern in eine Firma.
Die obligatorische Zweitageswanderung Ende Oktober 2001 war schön, aber nicht verheerend. Ich habe mich hinterher nicht mit Herzrasen in Krämpfen gewunden: Also, das war wohl nix.
Pausen braucht der Mensch zwar auch einmal, doch Pausen gönne ich mir ohnehin nicht zu knapp. Und meine Waage hat eine geradezu euphorische Meinung über Pausen, täglich euphorischer. Ich bin kein Gewichtsfetischist, nur wenn die Winterwanderhose kaum noch zugeht, wird's kritisch. Wir wandern ja viel, nicht unter 4 Stunden am Wochenende (sportliches Tempo, Höhenmeter), doch das mache ich seit 25 Jahren und habe mich daran gewöhnt. Ebenso meine Schwimmringe - die lachen bloß darüber.
Also, irgendwas muß jetzt passieren. Das Ideale bei diesen herrlichen Winterbedingungen wäre Skilanglauf. Leider passen meine Füße in die üblichen Schuhe nicht mehr hinein, ich mußte es vor einigen Jahren aufgeben. Die anderen machen dieses Wochenende die sog. Hohe Tour - ein bekannter Skilanglauf vom Erzgebirge bis in die Sächsische Schweiz, so 55-60km. Neid.
Ob ich mal von Dresden nach Sebnitz zur Schwiegermutter laufe? Nein, zu weit. Aber die 4 Stunden Eilmarsch Sächsische Schweiz-Sebnitz vor einer Woche mit teilweisem Spuren im tiefen Schnee brachten es auch nicht. Nur zwei Lebkuchen gegessen und trotzdem keine Gewichtsabnahme.
Da war sie, die Idee: Man könnte mal von Sohland in der Lausitz nach Sebnitz wandern, quer durch ein mir größtenteils unbekanntes Fleckchen Tschechien. Notgedrungen allein, und natürlich bei viel Schnee. Viele Orte sind in diesem Landesteil zwar elende Nester, doch der Wanderweg nimmt sie kaum mit. Laut Karte erst einmal 32km. Zwei Berge dabei, als Hauptziel der Tanzplan (Tanecnice, 600m), den man in der Sächsischen Schweiz von überall aus sieht. Wenn es denn geht. Ab und zu werde ich spuren müssen, aber wenn es gar zu dicke kommt, kann ich abkürzen. All right, Sachen gepackt. Leichtrucksack muß reichen. - Adrenalinausstöße führen zu schnellem Gewichtsverlust. Das brauche ich. Und ich werde reichlich Adrenalin ausschütten ...
Am 5.1. früh bei strahlendem Wetter in den Zug gestiegen, der ungewöhnlicherweise pünktlich losfährt und ankommt. Unterwegs sehe ich etwas höchst Eigenartiges: Aus einem Schornstein steigt Rauch 5m senkrecht in die Höhe und fließt dann waagerecht zu einer Scheibe aus. Ja, eine Inversionswetterlage war angekündigt, Dunst in den Tälern und Weitsicht auf den Bergen. Sogar Überreichweite, wie sich herausstellt.
In Sohland ist es kalt, sehr kalt. Früh war es -12 Grad in Dresden, aber hier muß es noch darunter sein. Unmassen Schnee, soviel sah ich bisher nur in guten Wintern im Erzgebirge. Die Lausitz hat wirklich etwas abbekommen vom Winter. Hinter hüft- bis fast brusthohen Schneehaufen am Straßenrand bahnt sich der Fußweg seine Strecke, soweit möglich. Es riecht nach Gülle. Inversion: Der ganze Dreck bleibt in der Kaltluftblase.
Weiter oben wird es etwas milder. Ein Thermometer zeigt -4 Grad, ein anderes -9
Grad. Naja, der Schnee quietscht derart, dass das zweite wohl stimmen wird. Irre
Fernsicht, erstes Foto. Alles läuft glatt, ich komme auf gespurter Straße und
gutem Weg sehr flott voran und bin schon nach 90 Minuten in Lipova in
Tschechien. Unterwegs fotografiere ich eine große Schneewehe auf glatter
Wiese, die wie eine nackte Brust aussieht:
Es riecht wieder nach Gülle, und es ist kalt. Der blaue Weg, den ich nun möglichst bis zum Tanzplan laufen will, schlägt hier einen großen Haken. Hinter einem verfallenen Schloß hört die Markierung auf. Zurück, wo war der Abzweig? Ah, natürlich dort, wo kein Weg mehr ist. Es geht los, hinein in den frischen Schnee. Wow, fast knietief stellenweise, erst einmal die Gamaschen angelegt. Bis zum Berg Jachym (472m) ist es noch weit, ich bin der einzige weit und breit. Es riecht nach Abenteuer.
Mühsam, sehr mühsam stapfe ich weiter. Es ist 11.30 Uhr, bis 17.00 sollte ich
über die Grenze sein. Aber erst einmal hier durchbeißen. - Der Güllegestank
wird stärker, rechts oben zeigt sich eine riesige Stallanlage mit erbärmlich
brüllenden Kühen im Freien. Ich bin kein Bauer, aber normal ist das sicherlich
nicht. Langsam, sehr langsam wird das Brüllen leiser. Den großen See habe ich
endlich hinter mir gelassen. Es geht leicht bergauf. Auf einem freien Stück
wird das Spuren sehr mühsam, einzelne Stellen sind schon mehr als knietief:
Wie hoch wird mein Tempo wohl sein? 2km/h?
Es könnte wieder mal eine Markierung kommen. Im allgemeinen sind Wege in
Tschechien sehr gut markiert, doch der Schnee verdeckt ohne Frage vieles in
diesem tiefen Winterwald. Rechts ist ein Stück eines Felsbrockens freigetaut,
und dort schaut eine Markierung heraus: Sehr nett, genau die richtige Stelle.
Aber dann kommt eine Gabelung in zwei gleichberechtigt aussehende Wege, und es
ist beim besten Willen keine Markierung auszumachen. Der rechte Weg sieht
besser aus, hier lief schon mal ein Skiläufer (vermutlich nach der letzten
Eiszeit, aber viel jünger scheint die Spur nicht zu sein). Also rechts.
Auf einem sonnigen Abschnitt ziehe ich erst einmal einen dünnen Pullover aus. Drei Schichten reichen bei diesem Tempo. Wo bin ich nur. Kein blaues Zeichen weit und breit. Keine Spuren, kein Geräusch, nur Sonne und hoher Winterwald. Hm, die für Rennradfahrer hervorragenden tschechischen Karten geben für Touristen nicht immer soviel her, Forststraßen und kleine Wege fehlen oft. Ich habe dank Sonne aber eine Richtung, und es muß bergan zum Jachym gehen. Stimmt so in etwa, weiter.
Noch eine Gabelung. Erst einmal rechts. Oh, der Weg biegt rechts ab, nicht gut. Zurück. Der linke Weg führt wohl eher zum Ziel. Aber er endet nach kurzer Zeit blind. Wieder zurück. Fein, jetzt kommt das Adrenalin, jetzt geht der Bauchspeck weg. Also doch rechts. Naja, so verkehrt scheint der Weg nicht zu sein. Eine Kreuzung: Jetzt aber links. Nach wenigen hundert Metern das Wunder: ein blaues Zeichen, und sogar ein blaues Dreieck. Das Dreieck heißt: Hier geht die Sackgasse hoch zum Jachym. Hurra, die Säfte steigen wieder, die Moral ist wieder da. Nun aber hoch zum Berg, den nehme ich natürlich mit. Es sind nur 300m. Ja - im Sommer. Mittlerweile hat man dort große Bäume gefällt, tiefe Schneewehen davor und dahinter bereiten dem einsamen Wanderer Freude. Aber es kann nichts mehr schiefgehen, ich brauche einfach nur hochzusteigen.
Oben ein verfallenes Kirchlein, Totenstille. Die hölzerne Empore im Innern ist noch erhalten, ansonsten ist das Gebäude verfallen wie in einem Märchenfilm. Ich esse meine zwei Bananen (die erste Verpflegung nach dem Start) und setze mich für zwei Minuten hin. Der Abstieg geht schneller, doch für die 600m Strecke habe ich 30 Minuten gebraucht. Nun ja, im Himalaya haben sie schon mal eine Stunde um 50m gekämpft, dagegen bin ich noch gut.
Normalerweise kann man bergab im Schnee rennen, doch nicht in diesem Schnee, und so sehr geht es auch nicht bergab. Dann freies Feld, gleißende Sonne, vor mir Lobendava. Aber dazwischen eben noch freies Feld, vielleicht 1.5km. Und die wollen erst einmal gemacht sein. Überall breche ich ein in den Schnee mit härtlicher Kruste obendrauf. Ich muß viel probieren, wo man hier überhaupt ein paar Schritte vorwärtskommt, ohne gleich zu versinken.
Lobendava, eine erste Straße. Zum ersten Mal seit 5km brauche ich nicht mehr bei jedem Schritt zu stapfen und die Beine mühsam hochzuheben. Ein sehr eigenartiges Gefühl. Es erscheint mir wie ein Temporausch. Nun geht's vorwärts. Wie üblich ein paar prächtige alte Häuser neben verfallenen (aber noch bewohnten) Buden, allerhand Dunst, der aus den Schornsteinen quillt. Ah, und ein "Partyclub". Das große rote Herz daneben läßt keine Zweifel darüber, welcher Art Parties hier gefeiert werden. Am Eingang jedoch ein Schild: "Zutritt nur mit Clubausweis." Allerdings steht es nur in Tschechisch da. Entweder will man Einheimische damit prinzipiell abschrecken (ob evtl. ich Mitglied werden darf?), oder es ist eben ein ganz exklusiver Club in diesem gottverlassenen Nest.
Später soll von dieser Straße der blaue Weg nach rechts abzweigen, aber der
ist einfach nicht zu finden. Ein Riesen-Feld ohne jede Markierung :-) Der
Schneepflug hat meterhohe Haufen hinterlassen, es sieht aus wie beim
Schneeskulpturenwettbewerb:
So muß ich mir den Schlenker sparen und laufe die
Straße (erkenntlich an den Schneehaufen rechts und links) weiter nach Vilemov
und Mikulasovce. In dieser weißen Pracht lassen sich auch die weniger schönen
Orte ganz gut ertragen ;-) Ich esse zwei kleine Schwarzbrotschnitten, die mir
sehr gut munden. Vermutlich brauche ich diese Kalorien dann noch. - Eine junge
Frau schippt sich durch eine große Schneewehe, die ihr Gartentor verstopft.
Ist wohl kein Zufall, daß die Frau die Arbeit macht ...
Als ich die Eisenbahnstrecke überquere, schippt eine junge Frau in oranger Dienstjacke Schnee von den Gleisen. Ohne Kommentar. Weiter oben verbellt mich eine 30cm lange Hundemischung gründlich (der vierte heute), das muß einfach sein in der Tschechei :-) Die Besitzerin zeigt mir die falsche Richtung, aber sie weiß ja nicht, daß ich auf den Tanzplan will. Und der ist jetzt dran. Längst habe ich mich entschieden, nicht abzukürzen. 14.30 Uhr, es müßte zu schaffen sein. Der Tanzplan steht an der Grenze, von dort aus müßte ich relativ schnell in Hertigswalde bei Sebnitz sein, und dann ist die Tour gelaufen. So gut wie jedenfalls.
Als ich den Fehler bemerke und den richtigen blauen Weg wiederfinde, winkt die Frau entsetzt ab: "Tiiief, tiief!!" Mir fällt momentan nicht sein, wie ich tschechisch "jaja, ich weiß schon" sagen soll und nicke nur: "OK, OK!". Hm, OK nicht gerade, aber eingedenk der Schwimmringe muß ich mir das einfach antun. Außerdem ist für heute Abenteuer im Terminkalender eingetragen.
Was kommt, ist ein endlos langes Feld mit den üblichen Beigaben: Verwehungen, Einbrechen. Die Form ist offenbar sehr gut, aber es strengt natürlich mächtig an. Ich genieße trotzdem noch die herrlichen Farben bei der tiefstehenden Sonne. Ein weißes Dach kommt nur unendlich langsam näher. Endlich bin ich dort, es ist schon 15.00 Uhr. Der Kein-Weg biegt jetzt nach rechts ab, natürlich über ein Feld. Mann, ist der Schnee hier tief. Jetzt aber durch. 60-90 Minuten darf ich bis zum Gipfel brauchen. Eine Lampe habe ich nicht mit. Sie würde nicht viel helfen, doch sie würde beruhigen ... An einer Welle reicht der Schnee schon bis zu den Oberschenkeln. Kämpfe, oben wird es besser. Ganz bestimmt.
Am Waldrand eine Markierung. Die darf jetzt nicht verloren gehen. Der Kopf muß klar bleiben. Ein Reh hat mir beim Spuren geholfen, nur könnte es ruhig größere Schuhe anziehen, die Tapsen sind ja lediglich wie kleine Einstiche. Weiter oben höre ich rechts ein Bellen und sehe auch ein Reh.
Es geht wie im Schneckentempo aufwärts, der Schnee bleibt tief. Noch reicht die Kraft ganz gut. 5.5 Stunden bin ich nun schon unterwegs. Da ist die Staatsgrenze. Ein Blick auf die Karte: Die Hälfte habe ich seit dem Knick geschafft. Das kann heiter werden. Jetzt muß ich einfach durch. Aber einen Biwaksack hätte ich mir einstecken sollen, einen leicht alpinistischen Touch hat das Unternehmen schon.
Steil zieht der Weg hoch, durch sehr tief verschneiten Wald. Lange Zeit vor
mir muß schon jemand hier hochgelaufen sein, in seinen Spuren sinkt man
wenigstens nur knietief ein:
Trotzdem ist es so anstrengend, daß ich alle paar
Meter anhalten und nach Luft schnappen muß. Außer tiefem Wald ist nichts zu
sehen. Hänsel und Gretel - nein, heute Hänsel solo. Bei zwei Mann könnte man
wenigstens die Hälfte der Spurarbeit sparen. Vorausgesetzt, der zweite hält
durch. Ab und zu etwas Fernblick durch die Bäume. Drüben liegt schon der
Ungerberg bei Sebnitz (Mann, sieht der nah aus), in tiefem Braunviolett. Ich
werde wohl die schönsten Momente auf dem Gipfel verpassen. Überleben ist im
Moment allerdings wichtiger.
Der Weg kreuzt eine Forststraße und geht nach links eine kleine Treppe hoch (erkenntlich an einem Geländer, darunter ist natürlich alles begraben). Dort ist leider überhaupt kein Weg mehr zu erkennen, und die blaue Markierung bleibt auf Sichtweite die letzte. Wie hoch bin ich? Ein Powerbar für einen Höhenmesser! Wo bin ich? Am Tanzplan, aber der ist sehr weitläufig ... Verflixt, was mache ich jetzt. Auf der Forststraße kommt hinten eine Skispur hoch. Ich muss darauf setzen, hier geht es nicht weiter. Also kurz zurück. Ich kann eine Rinne entlangkrauchen, in der der Schnee nur knietief ist. Rechts ist die Wehe schulterhoch. Am Ende, 5m vor der Skispur, versperrt eine mannshohe Wehe den Weiterweg. Ich rutsche immer wieder zurück. Schließlich kann ich Stufen hineintreten und oben auf allen Vieren zur Spur weiterkrabbeln. Vorhin hörte ich hier etwas wie Stimmen. Vielleicht sind hier gerade welche entlanggefahren. Das nützt mir wenig, doch es ist zumindest ein Lebenszeichen.
Auf dem Folgestück breche ich ein, in beiden Sinnen: Bis über die Knie und moralisch. Hm, was mache ich, wenn ich nicht durchkomme? Jetzt wird es wieder kälter. Mein lieber Scholli. Stimmt, meinem alten Kletterkumpel Scholli könnte ich anrufen, der wohnt hier in der Nähe und kann mir vielleicht beschreiben, wo ich bin. Jedenfalls muß ich erst einmal ganz schnell einen Angstschiß absetzen. Nun ist das Leben richtig hart. Wenn ich hier heil herauskomme, dann schlanker.
Ich quäle mich weiter unendlich langsam den Berg hoch. 16.15 Uhr, keine Pause mehr! Die Skispur biegt nach links ab, ich muß ihr wohl oder übel folgen. Naja, hoch zum Berg dürfte das Beste sein, auch wenn der Geist lieber nach rechts will.
Rechts scheint eine gelbe Markierung zu sein. Gelb? Gibt's hier doch gar nicht? Ganz up to date ist meine Karte wohl nicht mehr. Und dann die Überraschung: Eine getrampelte Spur! Hier waren Menschen! Mit vergleichsweise unendlich hohem Tempo geht es nun hoch. 16.30 erreiche ich den Gipfel; das große Haus und den Turm (von weitem überall zu sehen) erblickt man erst im letzten Moment. Hurra, der Turm ist offen. Eintritt ohne Eintrittskarte verboten - egal, zur Not erst hinterher bezahlen, erst einmal hoch. Die Sonne geht nämlich gerade unter, das könnte ein herrlicher Blick werden.
Oben wird es immer schneereicher im Treppenhaus, obwohl der Bau samt allen
Fenstern verschlossen ist. Noch eine letzte Wendelung und dann das total glatt
vereiste Plateau, zum Glück mit hoher Brüstung. Auf den ersten Blick wird mir
klar: Das, was Du jetzt siehst, erlebst Du so vielleicht nie wieder. Der Blick
ist einfach unglaublich:
Im Tal liegt überall weißer Dunst, und darüber
scheint es einfach keine Entfernungen mehr zu geben. Zum ersten Mal sehe ich
die Iserka im Isergebirge als weißen Dom, rechts der Jeschken und gleich
daneben die Schneekoppe im Riesengebirge (1600m) als weiße Pyramide. Das sind
alles -zig Kilometer Entfernung, und es sieht aus wie gleich hinter dem Wald.
Der dominierende Berg ist jedoch auf der anderen Seite der Milleschauer im
tschechischen Mittelgebirge (836m), eine alleinstehende, eindrucksvolle
Pyramide. Sogar das Erzgebirge liegt zum Greifen nah. Ich muß zur japanischen
Methode greifen: Alles schnell auf Film bannen und mir hinterher zu Hause
ansehen, wo ich war. Denn ich bin noch nicht da. Trotzdem - es ist unglaublich
beeindruckend hier oben, trotz der Schwierigkeiten, auf diesem Eis beim
Fotografieren noch in der Senkrechten zu bleiben.
In der Gaststätte ist noch Betrieb, doch ich habe keine Zeit. Zwei eingeschneite Mountainbikes vor dem Eingang stehen offensichtlich nicht erst seit heute hier.
Nun im Galopp hinunter zum Parkplatz, ab dann müßte alles Straße sein. Es wird immer schneller dunkel. Schöner Wald, schöne Stimmung, doch ich muß auf den Weg aufpassen. Wenigstens bricht man hier nur selten ein, ich komme oft in leichtem Joggingtempo vorwärts. Der Einbruch von vor einer halben Stunde ist erst einmal wieder vergessen. Einen Parkplatz sehe ich nicht, ist offenbar alles unter Schnee vergraben. Ziemlich lang die Strecke, aber im Vergleich zu den 3km vorher ganz leicht. Sehr spät komme ich unten auf eine beräumte Straße. Wegweiser sehe ich keinen, doch es ist klar: Vorwärts zur untergehenden Sonne. Nun aber fix.
Ein paar Häuser (Tomasov, wie ich später erfahre), die Straße scheint jetzt rechts wieder den Berg hochzuziehen. Geradeaus bellt mir ein großer schwarzer Schäferhund, daß das nicht der Weiterweg ist. Ich will an einem Haus fragen und muß die kurze Treppe auf allen Vieren hoch, so vereist ist sie. Mit der Frau, die aus dem Fenster schaut, kann ich mich ganz gut verständigen. Sie zeigt mir den richtigen Weg. Natürlich sind es nicht 500m bis zur Grenze, sondern wohl an die 2km, natürlich ist es eine Skispur mit einigen Tapsen drin, in denen man kaum laufen kann. Es wird sehr dunkel, ich bin immer noch nicht da.
Die Grenze erkenne ich gerade so im Dunkeln, danach geht es noch ziemlich lange hin bis zur Straße. Über mir beginnen die Sterne zu strahlen, vor mir liegt schon Hertigswalde. Endlich erreiche ich die Gaststätte "Waldhaus" an der Straße. Es ist 17.20 Uhr, ich benötigte 50 Minuten seit dem Gipfel. Ist das schnell oder langsam? Heute ist alles relativ, ich habe keine Ahnung.
Die letzte Stunde flotter Marsch wird zivil wie seit Stunden nicht mehr. Auch hier liegt beeindruckend viel Schnee, die Straßenränder sind teilweise brusthoch gesäumt. Es wird mächtig kalt, der Bart vereist schnell, und der Atem raucht heftig. Ein Bart ist bei solchen Bedingungen ein Segen, da können die Rennradler unken, wie sie wollen. Die kennen nichts Gutes ;-)
Nach 8 3/4 Stunden Marsch komme ich bei der Schwiegeroma auf dem Berg an. Dort oben sind es "nur" 9 Grad minus (unten in der Stadt schon -14). Ich regeneriere mich ein wenig, brauche aber kaum zu essen, nur trinken muß ich viel (ich hatte nur 1.5l Liter mit, mehr bekommt man bei der Kälte auch kaum herunter). Der letzte Bus bringt mich nach Dresden, wo ich kurz vor unserem Haus noch beinahe auf unsichtbarem Glatteis den ersten Sturz hingelegt hätte. Ein genaues Nachmessen ergibt eine Streckenlänge von 35km, macht glatt 4km/h brutto, was bei diesen Bedingungen sicherlich flott genug ist. Mit zwei weiteren Anwegen komme ich wohl auf 39km. Also, das war schon wie 200km auf dem Rennrad im Winter, ich bin zufrieden. Und es war ein ungeheures Erlebnis. Die Gelenke schmerzen nicht, trotz Tausender Verrenkungen beim Spuren und Einbrechen im Schnee. Nicht einmal heute merke ich die Anstrengung. Es geistern wohl noch massenhaft Endorphine im Körper herum. Oh, ich bin schon süchtig.
Ich wußte ehrlich gesagt nicht, ob das zu schaffen ist. Aber es zeigte sich, daß solche Touren auch im Winter gehen. Klaro, die Arktisfreaks legen da ganz andere Dinge vor. - Pro forma bin ich heute, am Folgetag, 800g leichter. Wenn das etwas zu sagen hätte, wäre das sehr schön. Aber für eine nächste solche Tour würde ich doch lieber den Biwaksack mitnehmen, eine Lampe, einen Kompass (es sei denn, das Wetter ist so 100%ig wie gestern), und ich würde das Handy am Körper tragen, damit der Akku nicht während eines Anrufs aussteigt.
Meine Ausrüstung war nur mittlerer Hightech: Oben ein dünnes, kurzärmliges Funktionswäschen-Unterhemd, darüber ein dickeres langärmliges Helly-Hansen-Hemd mit hohem Kragen, das mir den zu warmen Schal ersetze. Darüber eine einfache Vliesjacke - fertig. Unten eine dünne Wanderhose, darunter eine lange Funktions-Unterhose. Gamaschen, eingefettete leichte Bergschuh, dicke Fausthandschuhe, Vliesmütze: Das war's. Und das Gesicht früh mit Melkfett eingecremt, das war ein Segen für die Haut.
Sicherlich ist Skilanglauf derzeit die "vernünftigste" Sportart. Aber wer das nicht macht und nicht auf das Rad kommt (ist wohl ein bißchen schwierig momentan), und wem das Fitnessstudio zu miefig ist, für den habe ich ein wunderbares Angebot an Outdoor-Sport. Nur der Name dafür steht noch nicht fest. "Kampfwandern" nannte es ein Hungerästler im Herbst mal ...