@(#) Jun 14 2004, 11:19:37
Da mich haufenweise Leute fragen werden, ob ich meinen sportlichen Höhepunkt des Jahres überlebt habe und wenn ja, warum (und wie), hier gleich die Antwort im voraus: Ja, ich habe überlebt, und das gar nicht so schlecht, obwohl ich heute erst Bedenken hatte, denn auf der Wahlbenachrichtigung stand: Wahllokal ist nicht behindertengerecht. Aber ich konnte sogar noch recht flott gehen.
Die Wanderung war so ein typischer Floh im Ohr. Bis 40km geht es inzwischen recht gut bei mir, aber Hunderter werde ich niemals laufen, und schon 70km sind eine andere Welt. Ob das mit fetten 2400 Höhenmetern überhaupt zu schaffen ist für Nicht-Leistungs- sportler, bezweifelte ich leicht. Ich erfuhr rein zufällig davon und dachte mir: Auf flachen Strecken hast Du keine Chance gegen die Profis, aber bei so vielen Anstiegen kannst Du vielleicht doch mithalten. Probieren kann man's ja mal; bei ernsten Problemen mit Füßen oder Knien breche ich auf jeden Fall ab. Wäre aber eine neuartige Herausforderung, das brauche ich wieder einmal. Ich hatte allerdings wirklich Bedenken, ob ich das vernünftig durchhalte. Ungefähr ahnte ich ja, was ich mir da vornahm, habe schon genügend Langstreckenerfahrung.
Der DMM-Weg startet in Dresden-Loschwitz am Blauen Wunder und geht ständig bergauf, bergab durch die schönsten Ecken der Dresdner Umgebung und der Sächsischen Schweiz bis zum Großen Winterberg an der tschechischen Grenze (original noch bis zum Prebischtor, aber das ist im Rahmen einer Sportwanderung schlecht zu machen). Wenn schon, dann richtig, sagte ich mir, dann laufe ich gleich von zu Hause aus. Einmal im Leben von zu Hause bis zum Winterberg in einem Zug - das wäre doch was.
Hinter dem Namen DMM stehen übrigens Berühmtheiten wie Caspar David Friedrich, Theodor Körner, Richard Wagner und viele, viele andere Künstler, die diesen Weg begingen und von der Landschaft schwärmten. Auch der Freischütz hätte ohne ihn keine Wolfsschlucht.
Auf einer Trainingstour vor 14 Tagen über 55km brach ich nach 42km gräßlichst ein. Offenbar kam da ein Infekt hoch; ich bekam Durchfall, Hungeräste und Schwächeanfälle. Die letzten 13km wurden zur Qual. 70km? Utopisch! Den Infekt hatte ich durch Klettern beinahe beseitigt, er kam aber wieder. Als es auch nach dem zweiten Klettern nicht klappte, fuhr ich 133km in gemäßigtem Tempo Rennrad, und alles wurde gut. Letztendlich ist dem Rennrad die gestrige Tour zu verdanken.
2.30 klingelte der Wecker, es hatte gerade wieder kräftig geregnet. Allemal besser als die Hitze vor 14 Tagen! Punkt 3.00 marschierte ich los. Die Stirnlampe war überflüssig, unten an der Elbe war genügend graues Licht, und die nassen Wege spiegelten. Bis auf die große Disko und ein Tier, das mal ziemlich hässlich und heiser schrie (vermutlich ein Fuchs), war ich das einzige hörbare Leben. Mehr wäre mir auch nicht recht gewesen.
So spulte ich die 4km wie geplant in 40 Minuten ab und war der Erste am Start, was mir die Startnummer 1 eintrug. Die heftet man zwar nicht an den Rucksack, aber wie ich so mitbekam, scheint das eine Ehre unter Sportwanderern zu sein. Die Freude wurde durch den ersten Wolkenbruch gedämpft. Inzwischen überflog ich die detaillierte Wegbeschreibung, die zweifelsohne das Beste war, was ich bisher sah. Zudem gab es ein Formular für 22 Stempel. Nicht nur Bürokratenherzen schlagen bei einem solchen Anblick höher. Übrigens kostete der ganze Spaß nur 2 Euro. Ich kenne nichts, wo man sich billiger fertig machen könnte.
Zwei starteten eher; eine Meute von 10-15 Leuten begab sich genau um 4:02 auf den feuchten Weg. Es ging gleich steil bergan.
Ein Läufer in kurzer Sportkleidung, ein normal gekleideter Wanderer und ich liefen vorn. Weil wir sehr bald ins Gespräch kamen, verpassten wir einen Abzweig. Die Truppe hinter uns hatte es nicht nötig, zu rufen. Dafür erhielten sie einen herzlichen Dank, als wir sie wieder einholten. Es gibt schon viele komische Vögel bei den Wanderern, meinte der Läufer. Stimmt schon.
Der DMM innerhalb Dresdens ist auf dem Stadtplan vermerkt und sehr interessant, ich kann ihn nur empfehlen - wenigstens bis Pillnitz, das ist nicht weit (9km, allerdings mit lauter kleinen und steilen Anstiegen). Für mich war das sogar neu, eine ziemliche Bildungslücke, wie sich herausstellte.
Die Nicht-Rufer ließen wir hinter uns und sahen sie nie wieder. Vermutlich liefen sie nur eine Teilstrecke. - In Pillnitz holten wir einen der beiden Frühstarter ein. Er blieb nicht dran. Wir drei marschierten munter schwatzend den Leitenweg oberhalb der Pillnitzer Weinberge. Das Wetter wurde grau bis leicht sonnig. Der Läufer war ein rechter Extremi: 22 Guths-Muths-Läufe (78km Berge), diverse 100er Läufe, seit 15 Jahren jährlich ein Marathon unter 3 Stunden (er ist 49) und "natürlich" einer der elf Wanderweltmeister über 333km. Alles über ihn zu erzählen, würde den Rahmen dieser Geschichte vollends sprengen. Der andere Mitstreiter hieß Achim und hatte etliche 100er Wanderungen mitgemacht, ein gar nicht so alter Routinier, von dem ich mir einiges abguckte. Die Teilnahme am Weltrekord verhinderte der Tod seiner Schwiegermutter. Der Läufer hingegen erzählte noch allerhand vom Weltrekord.
Die ersten Stempel konnten wir nicht einsammeln: Es war noch zu früh, alles zu. Die einzige organisatorische (kleine) Panne überhaupt. Dafür waren zwei Stempelstellen in Bäckereien eingerichtet, ein genialer Gedanke. Meine Mitstreiter warnten mich vor frischen Brötchen auf solchen Touren, man braucht dann unbedingt ausreichend Toiletten- papier im Rucksack. Ich hörte auf sie.
Nach dem romantischen Liebethaler Grund begann es zu regnen. Die ganze Strecke bis Wehlen, reichlich 8km, goss es unangenehm. Der Regen lief in die Augen, ich konnte kaum sehen. Wegen der Schwüle hatte ich die Hosenbeine abmontiert, aber mit dem Schlamm wurde es derart schlimm, dass ich mir sie in Wehlen wieder anzippte - die ganze Suppe lief schließlich in die Socken, tödlich auf solchen Strecken.
Nach knapp 5 Stunden kamen wir in Wehlen an, 29km geschafft, es lief noch. Ilka, die Frau von Achim, stieß zu uns - sie lief die "kurze Strecke", d.h. etwa 43km. Sie war auch nicht von Pappe, wie ich bald merkte.
Nun kam die Sonne heraus, und es wurde unterträglich schwül. Aber es blieb keine Zeit, die Hosenbeine wieder abzubauen. In Rathen wartete der erste echte Berg auf uns, hoch zur Bastei. 180 Höhenmeter, was man nach 37km (für mich) doch schon merkt. Anschließend gleich die 825 Stufen der Schwedenlöcher wieder hinunter. Es blieb den ganzen Tag über mörderisch glitschig und schmierig, selbst auf Treppen standen teilweise Pfützen.
Auf dem folgenden Anstieg im Amselgrund hoppelte unser Läufer fort. Wir nehmen an, dass er versuchte, den ominösen ersten Starter einzuholen, der nach Aussagen der Stempelbesitzer noch vor uns sein sollte. Der zweite, den wir doch in Pillnitz hinter uns gelassen hatten, kam uns urplötzlich von oben entgegen. Er hatte sich total verhauen und gab auf.
Es war kurz sonnig, dann wieder wolkig, aber schon wieder unangenehm schwül. Bei solchem Wetter scheuert man sich nicht nur die Füße wund, auch am Oberkörper gab es Schadstellen.
Hocksteinschänke, dann Hockstein und die sehr enge, felsige Wolfsschlucht hinunter (die Carl Maria von Weber im Freischütz "eingebaut" haben soll). Unten gleich die nächste Stempelstelle, in Schades berüchtigter Gaststätte, wo die Bratwurst mit Beilage 6.40 Euro kostet. Ich beging die Dummheit, mir eine große Apfelschorle zu bestellen. Macht 2.60 Euro. Dafür könnte man ja ... mal rechnen ... 91km wandern!
Der steile, felsig-feuchte Schindergraben war einst länger. Irgendein Wegstück müssen sie dort entfernt haben, denn wir hatten bereits 39km in den Beinen (ich 43) und waren demzufolge nicht mehr frisch.
Oben ging es auf dem Brandweg bergan um die Felsen herum, und es begann zu grollen. Nach kurzer Zeit setzte der Regen ein, der zum Dauerwolkenbruch entartete. Wieder lief der Regen in die Augen, ich konnte nur nach unten sehen. Das Brandplateau hat eklige, lange Schneisen, auf denen man keine große Richtung mehr erahnen kann. Prompt verpassten wir einen Abzweig. Aus "Brandgaststätte 20min" wurde plötzlich "Brandgaststätte 35min". Frustig.
An der Gaststätte wieder Sonne. Gerade hatte ich mir eine Regenjacke über das platschnasse T-Shirt gezogen, weil es wirklich kalt wurde, da drückte schon wieder die Schwüle. Leicht machte man es uns an diesem Tag nicht gerade. Aber Achim war schon 100er in strömendem Regen gelaufen, die ganze Nacht durch. Dazu fehlen mir mehrere Klassen. Ringsum stiegen Nebel auf, ein herrlicher Anblick.
Der neue Wirt ließ eine Horde Kinder auf Stieleis mit Pfeifen ein ohrenbetäubendes Konzert veranstalten und wirkte auch sonst sehr fetzig und schlagfertig. Es war Stimmung, eine Wohltat nach dem alten Besitzer, einem brummigen Griesgram, der zuletzt nach Feierabend sogar den Zugang zur berühmten Aussicht versperrte. Manchen Leuten gönnt man die Pleite.
875 glitschige Stufen (laut Plan) mit Pfützen drauf ging es nun hinunter in den Tiefen Grund und drüben bei Sonne und Schwüle den Dorfgrund (580 steile Stufen) wieder hoch. Ringsum alles grün und glitzernd vor Nässe, dampfende Steine und Menschen. Ein kurzer Plausch mit einem alten Bekannten, einem Bergsteiger, der zu meiner Überraschung schon immer im Nachbarhaus des ehemaligen Biwak-Moderators Horst Mempel wohnte. Die Welt ist wirklich klein, auch wenn Teilstrecken davon recht lang sein können, so wie heute. Oben in Waitzdorf traf ich einen anderen Bekannten, der sich an der 43er "Kurzstrecke" versuchte. Weitere Wanderer, die wir schon in der Hocksteinschänke sahen, trafen nach uns ein. Kurze Pause in der Hitze, die gerade wieder herrschte.
Ich hatte nun schon mehr als 50km in den Beinen und brauche ein Pflaster an der linken Ferse. Das war bei meiner sehr eigenwilligen Fußgeometrie sogar recht spät. Das Pflaster half, ich brauchte bis zum Ziel keine weiteren künstlichen Hilfsmittel. Jedoch sollte man sich bei solchen Gelegenheiten seine nassen Füße besser nicht allzu genau ansehen, das schadet der Moral.
Den folgenden Kohllichtgraben kannte ich auch schon feuchter (in Gedenken an die Dauerregenorgie von 1994 doch Schlamm gab es trotzdem noch ausreichend. Schwein sein ist schön.
Unten im Sebnitztal trafen wir den Wanderbekannten von Waitzdorf nebst Mitläufern, der recht erstaunt war, dass wir an dieser Stelle noch nicht hoch nach Altendorf durften. Doch wir hatten uns an die Vorgaben der großen Dichter, Musiker und Maler zu halten, und jede Abweichung wäre Kunstfrevel gewesen.
Nach 2.5km dann der ersehnte Anstieg (für mich neu) nach Altendorf. Die Sonne prasselte, der Schweiß lief in Strömen. Es lief nicht mehr so gut. Naja, ich war gerade dabei, erstmals die 60km zu erreichen. Ilka blieb am Berg immer etwas zurück und holte uns auf nicht so steiler Strecke flugs ein. Klar, schließlich war sie praktisch noch gar nichts gelaufen ;-)
Oben wich die Sonne flugs der nächsten schwarzen Wolkenfront. Es gab
gespenstische Bilder - sonnendurchflutete Felsen und Wälder mit einer
schwarzen Wand darüber, die nur einen breiten blauen Streifen am
Horizont übrig ließ.
Der folgende Regen artete wenigstens nicht zur Sturzflut aus. Wir hatten trotzdem noch ein paar schöne Aussichten. Nicht umsonst heißt dieser neu angelegte Weg "Panoramaweg".
Auch bergab ging es sich nun nicht mehr so gut. Unten im Kirnitzschtal kam pünktlich zum nächsten Anstieg wieder die Sonne heraus. 6km noch bis zum Großen Winterberg, schwere 6km. Vor allem die Treppen zum Kleinen Winterberg würden zum Berg des Tages werden. Ich hatte gerade den ersten Powerbar gegessen (bisher nur zwei Doppelschnitten).
Hoch zum Kuhstall - das war auch schon mal flacher - holten wir meinen Wanderbekannten endgültig ein; ein Mitläufer hatte Stöcke, doch sie halfen ihm wenig (vor allem so, wie er sie benutzte). Im Hochgebirge oder mit schwerem Rucksack nutze ich auch immer Stöcke, in der Sächsischen Schweiz schon wegen der Erosion nicht. Bei einer solchen Wanderung hätte ich mich sowieso auf keine Experimente eingelassen.
17:00, und im Berggasthof Kuhstall noch ein Betrieb wie auf der Bastei. Einfach grausam. Der zweite Powerbar wurde angerissen.
Irgendwie kamen wir bis zum Kleinen Winterberg. Achim erzählte mir, dass er seine erste 70er Tour untrainiert angegangen war und im Ziel völlig fertig auf seine Frau wartete. Ihr erster Kommentar: "Du siehst ja aus wie das Gras hier!" Mir sollte es doch besser gehen. Ilka hatte jedenfalls nach ihrer ersten 50er Tour ein Jahr lang einen Bogen um diese Streckenlänge gemacht und lief auch inzwischen noch nicht mehr. Hm, da war ich schon weiter, das motivierte.
Die 495 Stufen hoch zum Kleinen Winterberg gingen auch irgendwie. Ich blieb an den Fersen von Achim, Ilka kam weiter hinten hochgekeucht. Achim sagte, ab so 50-70km ginge es bei ihm einfach immer weiter. Er lief phantastisch gleichmäßig und effektiv. Das ist das Geheimnis der Langstreckenwanderer: Es ist vor allem Technik. Dadurch versägen die 70jährigen in der Regel die 30jährigen.
Über Stock und Stein liefen wir durch wohlvertrautes Gelände bis zum Großen Winterberg. Da es bergan ging, schien die Sonne. Die letzten 50 Höhenmeter ohne Stufen waren schon immer eklig, diesmal natürlich besonders. Hier zog Achim los, und ich konnte nicht mehr dranbleiben. Nun ja, mit wem wollte ich mich da vergleichen ... Das Zielfoto oben zeigte uns total verschwitzt. Ich genehmigte mir ein Köstritzer (es gab leider kein Eibauer mehr). Es schmeckte, aber war da wirklich Alkohol drin? Das Bier gab es gratis für die, die alles schafften. Und wir waren die ersten "Protokollierten". Es war 18:25, für mich also 15 Stunden brutto Laufzeit (wobei ich mir die 25 Minuten Herumstehen am Start mal abzog). Vor 18:00 soll in den letzten drei Jahren noch keiner da gewesen sein, was für die Schwierigkeit der Tour sprach (üblich sind 6km/h, wir blieben knapp unter 5km/h). Es ist wahrscheinlich, dass unser Läufer schon zeitig da war und deswegen leer ausging. Pech jehabt, wa. Warum biste so schnell. Ob das Phantom existierte, das er einholen wollte, erfahre ich vielleicht einmal. Wir waren also 1., 2. oder 3. (ich also mindestens Vierter, schon ein Fortschritt). Von 56 Startern auf der langen Strecke sollen nur 33 überhaupt bis zum Brand gekommen sein. Au Backe. Und von den "43er-Kurzstrecklern" hatte uns tatsächlich keiner überholt. Achim und Ilka hatten also Recht: "Vergiss nicht, die hinter Dir haben die gleichen Probleme."
Wir streichelten noch meinen alten Lieblingshund, eine riesige Mischung aus Husky (Alaskan Malamud) und vermutlich Neufundländer mit einem Bettvorleger-Fell, gaben ihm einen Haps und machten uns auf die letzten 940 Stufen (427 Höhenmeter) hinab nach Schmilka. In dem Köstritzer musste Gelatine gewesen sein und irgendwelches Schmiermittel. Die Knie taten nicht weh - das war das Wichtigste -, und auch die Beine machten ganz gut mit. Wir waren nicht langsam und schafften pünktlich den Zug. Da ich schon wieder bekannte Bergsteiger traf, wurde es noch eine sehr muntere Heimfahrt. Ilka und Achim stiegen schon in Wehlen aus und mussten noch hoch zu ihrem Auto laufen. Ich ergänzte mittels eines Fußwegs vom Bahnhof die gesamte Strecke auf etwa 75km.
Also, es ging doch. Ich habe mich schon mehr gequält. Richtige Vorbereitung (die Tour vor 14 Tagen und das Radfahren zum Gesundwerden), richtige Einstellung und die richtigen Leute dabei (Achim und der Läufer hielten mich ordentlich auf Trab, und Achim und Ilka gaben mir auf den letzten 20km doch Mut). Ohne Frage war es schön, davon habe ich noch etwas mitbekommen, obwohl man sich bei derartigen Unternehmungen natürlich stark auf das Laufen konzentriert.
Vorgestern noch hätte ich auf die Frage, ob ich jemals 100km laufen will, wie immer gesagt: "Nein, keinesfalls." Heute sage ich: "Nein."