Ostseetour 2002: Leipzig - Graal-Müritz = 471km nonstop mit dem Rennrad am 27.7.2002

Erlebt und aufgeschrieben von Zwinki (zwinki2 @ gmx . de)

Notwendige Vorgeschichte

Langstreckenfahren fasziniert mich schon seit reichlich vier Jahren, als ich mit dem Rennradfahren begann. Auf meiner Homepage gibt es ausgewählte Beispiele meiner Sucht zu bewundern. Dabei bin ich kein sog. Brevet- oder auch Audax-Fahrer, der oft auf sich allein gestellt tage- und nächtelang bis über 1000km am Stück fährt. Ich habe Angst vor Nachtfahrten, denn sie sind gefährlich: Allein wegen des Verkehrs (wenigstens in Deutschland), und in der Gruppe wegen unausweichlicher Unkonzentriertheiten. Ich fahre lieber auch etwas schneller.

Mein Ziel ist es, einmal 400km am Stück allein und ohne künstliche Beleuchtung zu fahren. Das ist schwer, zumal ich es auf der einigermaßen bergigen Strecke Dresden-Prag-Dresden versuchen will. Bis 372km bin ich schon gekommen. Nachdem mir Petrus mit einigen sehr unangenehmen Scherzen die Trainingsmöglichkeiten dafür verweigerte - wenigstens eine 300er musste vorher werden - war das Vorhaben für dieses Jahr gestorben. Marathons (d.h., Tourlängen über 200km) wurden reichlich - bisher 10 dieses Jahr. Aber das sind eben keine 300er.

Nach der Sommersonnenwende (dort wurde auch keine 300er, weil ich an einem Staffel-Langtriathlon teilnahm) meldete sich mein schon vermisst geglaubter Bekannter Thomas aus dem Rennradforum wieder für eine gemeinsame Tour. Er hatte am längsten Tag an Fichkona teilgenommen: Vom Fichtelberg bis zum Kap Arkona auf Rügen, 611km am Stück mit dem Rennrad. Das ging die Nacht durch, und prompt gab es (wegen Übermüdung?) einen Schlüsselbeinbruch. Er fährt sehr gut und erreichte einen unglaublichen Schnitt von 31.7 km/h. Aber seine Jahresleistung von 25000 km ist sowieso von einem anderen Stern. Nun erholte er sich und wollte mit mir eine nicht so schnelle Tour machen. Das endete bei 105km in welligem Gelände (ca. 700Hm) und sattem 30.55km/h Schnitt, meiner absolut schnellsten Tour, und dazu noch von Haustür zu Haustür (wo mir so etwas allein praktisch nie gelingt). Da ich obendrein am Tag zuvor eine recht extensive Bergwanderung absolviert hatte, war ich hinterher platt. Das verstehen also Fichkona-Fahrer unter Erholung, soso. Nun gut, bis auf den bekannten DDR-Meister Martin Götze (der sogar Olaf Ludwig schlug und aus politischen Gründen kein Nationalkader wurde) war Thomas bei Fichkona auch der Schnellste.

An Fichkona nahmen aber ebenso Leute teil, die dort eigentlich nichts zu suchen hatten (z.B. mit 1000km in diesem Jahr bisher), und sie kamen trotzdem an. Hm, man braucht also vielleicht kein Profi zu sein für solche Touren, doch die Nacht durch? Besser nicht. Selbst wenn es noch so gut organisiert ist.

Thomas erzählte mir allerdings auch von einer geplanten Tour Leipzig - Graal-Müritz am letzten Juliwochenende. Eine organisierte Tour unter Leitung von Martin Götze, nur ca. 50 Leute. Start in aller Frühe, Ankunft in später Dämmerung. Das wäre eher etwas für mich.

Schon am nächsten Tag reservierte ich meinen Startplatz und zahlte die 100 EUR; ich rutschte gerade noch mit hinein. Welch ein Glück, wie ich heute weiß! Auch die Übernachtung bei Karle in Leipzig wurde schon "vorgebucht". Martin Götze meinte, es werden wohl 444km. Macht nichts: Was uns nicht umbringt, macht uns nur härter und umgekehrt.

Am 13.7. klappte ein schwerer Marathon mit Tria-Peter aus der Braunschweiger Ecke: 200km, "nur" 2500Hm, aber bei unerträglicher Schwüle. Und dann noch viele Berge bis 15%, wir sind fast gestorben. Obendrein hatte ich barbarische Fußschmerzen in meinen neuen Schuhen, obwohl sie reichlich bemessen sind (die Füße quellen in solcher Hitze auf und werden in den Schuhen gequetscht).

Eine Woche später fuhr ich bei weit besseren Bedingungen den Colmnitzer Supercup inclusive Fichtelberg mit - 241km, 3700Hm -, und weil er erstaunlich gut lief und ich sehr viel schneller als erwartet war, verlängerte ich ihn gleich um die Heimfahrt per Rad nach Dresden, nebst Extra-Berg und Extra-Strecke am Ende: Es wurden 300km mit mindestens 4100Hm und einem für mich unglaublichen Schnitt von 26km/h (nun glaubt mir keiner mehr, ich wäre am Berg langsam). Und die Fußschmerzen kamen erst nach 220km. Das ließ hoffen.

Wenn der Laie die Streckenlängen 200 - 300 - 470 hört, wird er glauben, dass die 470er die schwerste Tour war. Unter Höhenmetern können sich die meisten nichts Rechtes vorstellen, unter widrigen Bedingungen auch nichts. Es war subjektiv eher umgekehrt. Trotzdem wurde Leipzig-Ostsee natürlich die Megatour des Jahres, ohne Frage.

Unruhige Nächte

Man verzeihe mir die lange Vorrede, aber ich will damit nur andeuten, dass man solche Unternehmungen nicht aus der Kalten angehen sollte und nicht einfach mit Härte absolvieren darf. Das kann gewaltig ins Auge gehen. Nicht nur sportlich, sondern auch moralisch muss man gewappnet sein. Und trotzdem schlief ich die beiden Tage vorher unruhig. Ständig verpasste ich nachts irgendwelche Zuganschlüsse, musste dem Feld hinterherjagen oder hatte mein Rad im Zug stehenlassen und erwachte dann ziemlich gerädert.

In der Praxis jedoch buckelte ich am Freitag nachmittag meinen 10kg-Rucksack auf und eierte damit an der Elbe bis zum Bahnhof. Die Verspätungen waren für Bahnbegriffe nicht messbar und die Orientierung in Leipzig kinderleicht, weil ich rotzfrech auf dem Georgi-Ring fuhr (ich entdeckte kein Verbotsschild für Radfahrer, obwohl es schon irgendwo gestanden haben mag - dafür wurde ich mit freudigem Hupen begrüßt ;-). So war ich schon halb sieben bei Karle. Wir hatten uns massig zu erzählen. Wie Tria-Peter fuhr auch er im Juni mit dem Rennrad von Berlin nach Moskau. Nebenbei gab es noch zweimal Spaghetti; ich hatte schon seit 6 Stunden keine mehr gegessen und bereits Entzugserscheinungen. Karle und seine Frau kümmerten sich rührend um mich, ich kann ihm nur auf diesem Wege danken. Nachdem wir gegen 22.30 Uhr ca. 5% der wichtigsten Dinge ausgetauscht hatten, unternahm ich einen zaghaften Schlafversuch.

Ob ich geschlafen hatte, werde ich nie erfahren. Jedenfalls war ich früh um 3.00 Uhr fast augenblicklich auf den Beinen.

Start vor dem Morgengrauen

Karle geleitete mich mit seinem MTB durch die Innenstadt zum Treffpunkt am Zoo. Unglaublich, wieviel Verkehr an einem Samstag dort bereits 3.30 Uhr herrschte; auf dem Georgi-Ring wäre es echt gefährlich geworden. 4km waren es bis zum Treffpunkt. Na bitte, das waren doch schon 1% der Strecke.

Vor dem Zoo geisterten bereits erste dunkle Gestalten herum. Zaghafte Begrüßungen. Ich erwartete maximal zwei Bekannte: Lothar aus Leipzig mit dem ... sagen wir mal, Bäuchlein; ich kannte ihn schon von der Friedensfahrt-Sporttour 2001 her. Und meinen Bekannten Thomas erwartete ich, wenn er überhaupt kommt. Denn er hatte wie ich den Elbradweg bei Hochbetrieb genutzt. Mir schrammte ein unfähiger Jugendlicher beim Slalomfahren nur ein Stückchen Unterarm ab, bei Thomas gab es in ähnlicher Situation einen Rippenbruch.

Aber Thomas kam und fuhr gut wie immer.

Es war trüb und irgendwie schwül. Ich zog gleich meine langen Sachen aus und nur den kurzärmligen Windstopper über das gelbe Friedensfahrt-Trikot, das ich wegen seiner grellen Warnfarbe extra für die berüchtigten Mecklenburger Autofahrer angezogen hatte. Beruhigt registrierte ich, dass noch viele andere gelbe Trikots trugen. Die Farbe wird also keiner symbolisch sehen.

Martin Götze kam (er fuhr natürlich selbst mit); Einschreiben, Begrüßung, kurze Einweisung ... zu meinem Erstaunen hatten wir 50 Fahrer fünf Begleitautos: Eines für das Handgepäck, eines für die Verpflegung, eines für das "große Gepäck", einen Besenwagen und - einen Krankenwagen! Das war toll. Bei all den angekündigten Leistungen fand ich 100 EUR ohnehin nicht übertrieben, nun staunte ich wirklich.

Im Verpflegungswagen lagen Paletten mit Kuchen und großen Zetteln drauf: "Martin - Pfoten weg! Kuchen ist abgezählt!!" Aha, auch so eine Naschkatze wie ich.

Der Zoodirektor persönlich gab 4.40 Uhr den Startschuss, und bei ganz leichtem Niesel machte sich der Tross ohne Licht auf den Weg. Es ging die B2 zunächst bis Wittenberg, eine mir gut bekannt Strecke. Das Tempo war angenehm, immer so 30-33km/h in der Ebene, an leichten Anstiegen 25-30km/h. Die sanften Wellen in der Dübener Heide blieben fast die einzigen interessanten Erhebungen des Tages; nur dort musste ich mich manchmal zwischen Sprechen oder Atmen entscheiden. Alle anderen "Berge" hatten so 1-3% Steigung und erlaubten einen lockeren Plausch. 1970 war mir bei einer Radttour rund um die DDR mit einem 1-Gang-Sportrad alles viel steiler vorgekommen. Lang, lang ist's her.

Zwei Frauen fanden sich im Peloton: Annette, die sehr gut fuhr und das Unternehmen mitorganisierte, und Angelika, die eine solche lange Tour zum ersten Mal unternahm. Genauer: Sie war bisher erst 100-120km am Stück gefahren und hatte ihr Rennrad noch nicht lange. Allerdings war sie hart im Nehmen. Ihr nächstes Vorhaben war die Besteigung des Aconcagua (fast 7000m) in Südamerika, ihr Lebensziel mal ein 8000er. Das steuert sie mit bemerkenswerter Konsequenz an. Ich traute ihr schon zu, heute durchzukommen.

Mir ging's gut, ich blieb immer vorn und führte auch lange Zeit. In der Ausschreibung waren 25-28 km/h Netto-Durchschnittgeschwindigkeit angegeben (daher hatte ich keine große Angst vor der Tour), aber wie sich herausstellte, waren die 30-33 km/h und mehr durchaus üblich und bei ganz leichtem Rückenwind oder wenigstens Windstille auch nicht schwer. Lange Touren darf man bekanntlich nicht zu schnell angehen, doch die bisherige Fahrweise war ausgesprochen angenehm. So sollte es bleiben.

Am wildesten führte jedoch "Frank im Wind", genannt auch "das Tier". Über 50 ist er sicher, aber er hat unglaublich Kraft und zog das Tempo immer ziemlich an. Er ist bekannt dafür.

Weihnachten und Ostern zusammen

Das Frühstück war nach 70km zu erwarten. Erst seit vorigem Jahr war ich seltene Pausen gewohnt, nun machte sich das bezahlt. Im Nachhinein muss ich sagen, dass das Pausenregime optimal war: Nach 70, 160, 255 und 375km sowie zwei kurze Pinkelpausen. Sicher war es hart, 120km am Stück zu fahren, aber für die lange Strecke richtig. Wer zwischendurch austreten ging oder einen Defekt hatte (dabei half ihm das Begleitpersonal tatkräftig), wurde im Windschatten des Besenwagens mit bis zu 50 km/h wieder an das Feld herangeführt. Das klappte auch beim Bäuchlein-Lothar problemlos (unter dem Fett hat er nämlich ziemliche Muskeln, er kam sehr gut durch!).

Ich freute mich schon auf den Kuchen. Es gab aber nur Pustekuchen. Pfoten weg, auch für uns. Dafür Käse- und Wurstsemmeln, Äpfel, Bananen und - Hit des Tages - Schokoladenosterhasen und -weihnachtsmänner friedlich nebeneinander. Nur das Mineralwasser mit soviel Kohlensäure fand meine Kritik, ansonsten war alles OK. Kuchen? Sei nicht so verfressen, außerdem motiviert die Aussicht auf Kuchen gewaltig.

Weiter ging's. Ich konnte unterwegs nur einige belanglose Fotos machen, dafür rannten ständig diverse Leute mit Fotoapparaten und Videokameras um uns herum. Die Ergebnisse werden wir hoffentlich noch zu sehen bekommen.

Es lohnt sich, ein solches Unternehmen während der Tour de France durchzuführen. Ich hatte bereits auf dem Bahnhof bemerkt, dass mein Rennrad deutlich mehr Blicke als sonst auf sich zog (und es war nicht einmal auf Hochglanz geputzt, weil es sonst automatisch an jeder Eisdiele stehen bleiben würde, um bewundert zu werden). Man feuerte uns an vielen Ecken und Enden an, Autos hupten zur Begrüßung. Dazu trug natürlich auch bei, dass wir fast immer als geschlossenes Feld mit den Begleitfahrzeugen fuhren und so sehr auffällig waren.

Nach einer Schweinemastanlage (Nähe Pferdehof "Wühlmühle", einer der vielen lustigen Ortsnamen unterwegs) kam ein langes Pflasterstück, genauso, wie ich mir Paris-Roubaix vorstelle. Es ging schon zu fahren, doch das Feld zog sich blitzartig auseinander. Hier zeigten sich sehr große Unterschieden in der Fahrtechnik. Thomas rasselte trotz gebrochener Rippe in einem irren Tempo darüber. So gut bin ich noch lange nicht, aber viele waren auch sehr, sehr langsam, und einer stürzte. Ohne Helm schlug er mit dem Kopf auf das Pflaster. Zum Glück verletzte er sich nicht. Es fuhren viele Fahrer ohne Helm. Mehr Konsequenz ist in dieser Beziehung leider noch nicht "Mode", außer z.B. bei Supercups.

Nach der Wühlmühle ging es über Damelang in die Cammer (so hieß das folgende Dorf). Wir näherten uns dem Havelland. Langsam kam die Sonne heraus, es wurde wärmer. Und bei mir traten zum ersten Mal Fußschmerzen auf. Oh, jetzt schon, nach 150km - kein gutes Zeichen.

Bei Ketzin setzten wir mit einer großen, kettengetriebenen Autofähre über die Havel. Die Gegend war Bremsen-verseucht. Kaum hielten wir an, hatte ich schon drei Bisse weg (offenbar roch ich für diese Biester sehr appetitlich). Verscheuchte man sie, setzten sie sich sofort woanders hin und bissen dort herzhaft zu. Teuflisch. Ich gehe nicht paddeln, Radfahren ist mir lieber! Der Windstopper verschwand in der Tasche. Das nun sichtbare Friedenfahrt-Trikot schien eine abschreckende Wirkung zu haben - oder war es auf dem Wasser besser? Jedenfalls hörte die Bremsenplage auf. Auf der anderen Havelseite, nach 160km, die zweite Pause. Immer noch kein Kuchen. Die Fußschmerzen verschwanden erst einmal wieder. Meine Sorge galt jetzt mehr dem reichlichen Trinken, es war etwas schwül und ziemlich warm.

Durchhalten!

Nach der Pause folgte ein subjektiv sehr langes Stück. Wir hatten gedacht, das Mittagessen gäbe es in Rheinsberg, aber es kam erst weit dahinter in Canow. Vorher fuhren wir jedoch an vielen Seen vorbei, es war landschaftlich recht schön. Überhaupt war die Route sehr clever gewählt: Wenige Bundesstraßen, viele gute Nebenstraßen. In Ortsdurchfahrten fast immer nur Kleinkopfpflaster (soweit nicht asphaltiert), kaum einmal grobes Pflaster, und das berüchtigte brandenburgische Feldsteinpflaster fehlte völlig.

Einer der Fahrer war sehr klein, hatte aber sehr gut durchtrainierte Beine und fuhr auch dementsprechend. Ich wurde mir über sein Alter nicht schlüssig. Bis mir Martin Götze sagte: "Der wird in reichlich einem Monat 16. Unglaublich, was?" Ja, unglaublich, zumal er ebenfalls Fichkona mitmachte. Den ganzen Tag über fuhr er gut und zählte keinesfalls zu den Fahrern, die Probleme hatten. Man wird wohl noch von ihm hören.

Dafür hatte Lothar ein Problem. Nach Rheinsberg machte es vor uns ohne sichtbaren Anlass ganz laut ZISSSSCH, und Lothar sank 2cm nach hinten. Der Schlauch war einfach aufgeplatzt, vielleicht aus Protest gegen das Übergewicht. Aber Lothar fuhr nach der Reparatur mit konstant 50km/h hinter dem Besenwagen her und kam gleichzeitig mit uns in Canow an. Also, nicht witzeln über die Dicken, erst einmal mithalten.

Ich hatte ein noch größeres Problem: Meine Fußschmerzen waren inzwischen ganz übel geworden, vor allem die Spitzen der mittleren Zehen brannten höllisch, alles tat weh, mir war manchmal schon übel vor Schmerz. Nichts half mehr - kein Wechsel der Fußhaltung, kein Lockern der Schnürsenkel, kein Nur-Ziehen an den Pedalen oder Treten mit den Absätzen. Es war wieder so schlimm wie vor zwei Wochen, wo ich viermal in Socken über die Wiese humpelte. Das ging heute natürlich nicht.

Aber ich hatte das Problem kommen sehen und im Begleitauto meine alten Latschen, die schon 35000km weg hatten (und entsprechend aussehen). Auch sie versprachen Schmerzen, doch nur starke statt höllischer. Es gab noch eine Pinkelpause, die ich zum Wechsel nutzte. Uaaah, ab jetzt wurde es besser.

In Canow sahen wir immer wieder weiße Aufschriften "Leipzig-Ostsee" auf der Straße. Mehr konnte ich im Peloton nicht erkennen. Das war die Ankündigung des Mittagessens. Endlich, nach 255km große Pause. Der Schnitt pegelte sich bisher nach jeder Pause sofort wieder auf 30.3 bis 30.4 km/h ein - wie bei einer Maschine klappte das. Sie erzählten, dass auch bei den anderen Touren der Schnitt bis ins Ziel unverändert blieb. Bis auf die Fußschmerzen konnte ich es mir schon vorstellen, obwohl ... noch 180km, das ist ganz schön lang ...

Das Essen war erstklassig: Spirelli mit gut gewürztem, ganz magerem Gulasch und: KUCHEN! Nicht unserem, sondern von der Gaststätte, und sogar Kaffee dazu. Es war alles reichlich vorhanden, vor allem Getränke. Inzwischen war es nämlich bemerkenswert heiß geworden.

Auf der Herrentoilette bildete sich immer wieder eine Schlange. Es schien hoffnungslos, dort einen zeitweiligen Sitzplatz zu ergattern. Letztendlich gelang es mir doch noch. Ob das so besser war, muss ich im Nachhinein bezweifeln. Denn irgendwelcher Pfeffer und Peperoni - vielleicht vom Vortag - reizte sensible Hautbereiche. Nach einigen Dutzend Kilometern bekam ich dann Sitzprobleme. Nicht die üblichen, es waren einfach Hautpartien von Stuhlgang gereizt. Das kennt vermutlich jeder Radfahrer, z.B. nach Durchfall. Im Unterschied zu den Fußschmerzen ließ sich das aber steuern und zur Not wegstecken. -

Bisher lief alles weitgehend perfekt. Die nicht einfache Route war wie gesagt clever gewählt, es gab auch bis dato keine Verhauer. Das Feld fuhr immer geschlossen, das Leitauto blieb ständig in Sichtweite (wenn ich da an die Scheunemann-Touren denke wie Fern- und Friedenfahrt ...), der Besenwagen zog Verspätete im Windschatten nach vorn. Mit der Zweierreihe klappte es nicht so perfekt, aber im vorderen Teil doch gut genug. Nur wenige Fahrer wie einer im blau-weiß-roten Scott-Trikot fuhren den ganzen Tag undiszipliniert. Der besagte "Scott-Fahrer" setzte sich ständig links neben die Zweierreihe, drängelte seitlich hinein, drängelte von hinten, schnitt mir in Wittenberg gefährlich eine Kurve (und reagierte nicht auf Kritik) - der konnte einfach nicht fahren oder war so veranlagt. Thomas bestätigte mir meinen Eindruck. Aber diese wenigen machten das Kraut nicht fett, es fuhr sich insgesamt prima.

Martin Götze nutzte seine uns haushoch überlegene Kondition, um ständig vor- und hinterzufahren und alles zu koordinieren (auch mittels Ohrstöpsel). Es klappte ganz einfach.

Ich stellte meinen Tacho auf 0 zurück, weil er das sonst nach 10 Stunden reiner Fahrzeit von allein gemacht hätte. Und einen 44er Schnitt werden wir wohl kaum fahren :-)

Start zum zweiten Teil

Nach dem Essen ein erst etwas verhaltener Start. Angelika hielt immer noch durch und freute sich über das gemäßigte Tempo. "Aber dann legen sie wieder schlimm los." Nun war das leider notwendig. Wie sich herausstellte, arbeitete der hintere Teil des Feldes wie eine Ziehharmonika; insbesondere bremsten sie nach Abfahrten von der nächsten Welle den Schwung wieder aus. Dieser Effekt soll auch bei Fichkona aufgetreten sein und liegt vielleicht gar nicht an irgendwelcher Unfähigkeit. Vorn fuhr es sich leichter, wie man am Folgetag erzählte. Aber an Bergen kam Angelika dann leider nicht mehr mit und war wieder hinten.

Einmal hörte ich hinter uns einen Dialog: "In der Ausschreibung waren 25-28 km/h Schnitt angekündigt. Wir fahren gerade wieder andächtige 34-38 ..." Letztendlich blieben wir trotzdem alle beisammen. Und dass der Schnitt prinzipiell 5km/h unter dem "üblichen" Tempo liegt, dürfte nicht neu sein.

Wir waren nun schon "ordentlich" in Mecklenburg-Vorpommern gelandet, was sich wie befürchtet nicht nur an lustigen Ortsnamen zeigte (Faulenrost, Großkelle, Poppentin, Lupendorf, Bad Sülze, Carlsruhe, Viecheln, Kleverhof), sondern auch an den Autofahrern. Die fuhren einfach abartig. So etwas Aggressives hatten viele von uns offensichtlich noch nicht erlebt. Es gab ungläubiges Kopfschütteln, wenn Autos mit Tempo 100 am Peloton vorbeirasten und es dann gerade noch schafften, vor dem Gegenverkehr einzuscheren. Oder sie schafften es nicht mehr und mussten sich (zum Glück beizeiten) ins das Feld drängen. Wir waren gewarnt. Uns ist nichts passiert. Einmal raste einer im Gegenverkehr vorbei, wo nur minimal Platz war, und hätte einen fremden Radfahrer auf der anderen Straßenseite fast in den Graben gedrückt. Wir sahen kaum einen Rennradler, selbst Tourenfahrer gab es so gut wie keine auf unseren Straßen. Dafür sehr, sehr viele Kreuze. Ich vermute stark, der typische Unfall dort oben wird der frontale Zusammenstoß sein, nicht selten unter hochprozentigem Einfluss. Abartig, wie das dort zugeht! Wenn es mit Software und Datensicherheit eines Tages nicht mehr recht laufen sollte, mache ich eine Holzkreuzproduktion in Meck-Pomm auf. Die scheint den Lebensunterhalt zu garantieren.

Aber trotzdem gab es nicht nur böse Autofahrer auf dieser Welt. Die Landschaft im Licht des späten Nachmittags war teilweise sehr schön. Seit der Radtour 1970 hatte ich sie nicht mehr gesehen. Die Berge aus meiner Erinnerung gab es einfach nicht. Der "steilste" war die Mecklenburgische Schweiz hinter Malchin, vielleicht 2-3km lang maximal 2-3% Steigung. Ich fuhr dort etwas weiter hinten, weil sich vorn immer mehr Drängler zeigten. So wurde man mit der Zeit unweigerlich "durchgereicht". Bei diesem Verkehr konnte ich nicht einfach wieder vorfahren. Dort hinten lag das Tempo bergan bei 20-22km/h - wohl das einzige Mal in Mecklenburg, dass das mittlere Kettenblatt zum Einsatz kam ... Naja, der höchste Punkt besagter Schweiz liegt immerhin bei 124m. Dieser Rücken erinnerte mich etwas an die Eisernen Berge in Südböhmen bei der Friedensfahrt-Sporttour 2002, nur dass es damals 5km mit 6-10% waren und die Fahrer wie die Teufel hochjagten, wir waren echt am Anschlag ... Derartiges vermeidet man tunlichst bei Langstrecken.

Bei der Abfahrt ließ ich mich hinten herausfallen, denn inzwischen wurde es im Pulk ziemlich gefährlich. Manche fuhren offenbar bereits etwas unkoordiniert oder hatten wenigstens ihre guten Sitten vergessen. Es war nicht katastrophal, aber nicht mehr so schön wie vorher. Am folgenden "Berg" (wie gesagt, steiler als 3% war keiner) musste ich zweimal beschleunigen, um zu überholen. Man wusste ja nie, ob von oben wieder so ein Überschallgeschoss auf vier Rädern geflogen kommt. Auffällig übrigens: Das waren normale Autos, die so irr fuhren! Nichts mit tiefergelegt, Ofenrohr-Auspüffen oder schwarzen Heckscheiben. Ursachenforschung steht mir nicht zu.

Am "Berg" erreichte ich beim Überholen gigantische 40km/h :-) Also, von totaler Erschöpfung noch keine Spur, und bei den allermeisten anderen offensichtlich auch nicht. Das war der vernünftigen Fahrweise den ganzen Tag über zu verdanken.

Die Felder leuchteten in tiefem Gelbbraun im Abendlicht, dazwischen Alleen, Seen, dichte und dunkle Wälder, Baumgruppen, viele kleine Wellen und sehr gute Strassen. Also, bauen wir doch einen großen Bunker und sperren die 10% bösen Autofahrer dort ein, dann wird Mecklenburg ein angenehmes Radfahrerland. Natürlich gibt es woanders auch wilde Fahrer. Einer erzählte mir unterwegs, er sei früher viele lange Touren im Westen gefahren. Dann zog er 1992 nach Leipzig und habe dort mehr tote Radfahrer gesehen als Tote sonst im ganzen Leben. Das hielt ihn von langen Alleinfahrten ab. Ich habe diese Phase zum Glück nicht mitbekommen, weil ich erst 1998 wieder auf das Rad stieg und damals die Sitten offenbar schon wieder ziviler geworden waren.

Während der Fahrt reichte Martin Mineralwasserflaschen herum. Das half unheimlich wirtschaften und überleben, denn Trinken war jetzt bitter notwendig, und wir sparten so die Pause.

Die Sonne sank tiefer, eine sehr schöne Abendstimmung. Das Ziel war noch weit, doch es blieb ja noch lange hell, und wir kamen gut voran. Die Füße schmerzten immer etwas (es ging), beim Sitzen brannte die bewusste Hautpartie am Hintern (nicht die im Schritt, bei der übliche Sitzprobleme auftreten können).

Der beste Kuchen, den die Welt je aß

Nach 120km, insgesamt 375km, kam die letzte Pause mit der Hauptsache: Kuchen, Kuchen, Kuchen. Mann, war das phantastisch. Wie gut Eierschecke, Aprikosenkuchen, Pflaumenkuchen und Streuselkuchen nach 375km schmecken, muss man einfach einmal erlebt haben. Schade, dass ich keinen Pansen habe.

Was fehlte, war nur Cola, und Tee wäre auch ganz nett gewesen (immer dieses Krabbelwasser). Aber sonst: 1a Verpflegung.

Unten war ein See, einige gingen kurz baden. Ich besser nicht, die Sitzprobleme sollten sich nicht verschlimmern. Viele lagen auf der Wiese herum. Eine gewisse Erschöpfung war nicht zu übersehen. Aber ich hatte schon Schlimmeres bei Supercups erlebt. Hier fuhren vorwiegend Leute, die wussten, was sie sich vornahmen, das sportliche Niveau war doch ziemlich hoch.

Der Sani hatte keine Salbe. Mit einer Sauerstoffdusche ließ sich mein Hintern bestimmt nicht ruhigstellen (die war nämlich da :-). Hätte ich's gewußt - Thomas hatte Vaseline mit ...

Der Schnitt lag immer noch bei 30.2 seit der Pause (wo ich den Tacho zurücksetzte). Andere berichteten, dass wir bis 430km den 30er Schnitt hielten. Aber dann wurde es dunkel. Siehe unten.

Der Start verlief etwas verhaltener. Der blau-weiß-roter Drängler war einer der wenigen, die immer wieder störten, ansonsten funktionierte das Peloton jetzt recht gut. Nach so einer langen Strecke gehörten wir offenbar "zusammen", das Feld erschien mir wie ein einheitlicher Organismus. Ich kam auch mal wieder zum Führen, die Kondition war noch kein Problem. Eher mein wunder Auspuff. Die Fußschmerzen schwanden mit zunehmender Kühle immer mehr. Welch eine Wohltat. Von den Fahrern mit Problemen tauchte nach meinem Eindruck nur Angelika immer wieder vorn auf, aber sie biss schon mächtig. Bei 300km wollte sie fast aufgeben, nun ging es aber wieder besser. Ich war längst in dem Zustand, wo es einfach immer weiter geht, so lange das Licht reicht. Das musste die reinste Fettverbrennung sein. Ein "Tourenfahrer" (Tourenrad mit schmalen Reifen) schien sich auch sehr gut zu halten. Man sah es vorher weder Leuten noch Fahrrädern an, wer für solche Strecken geeignet ist.

Martin ulkte herum und reichte uns wieder Wasserflaschen. Er setzte sich eine Bananenstaude als Krone auf - das sah gediegen aus. Dann prustete er Leuten (vor allem Annette) Mineralwasser auf das Trikot. Wenn man selbst nichts abkriegt - sehr lustig, und wenn doch - halb so schlimm. Das Fahren machte Laune. Die 400km wurden voll, es rollte immer noch gut. Wer verlängert uns den Tag?

Blutrot ging die Sonne unter. Wir schätzten die Ankunftszeit auf 22.00, oder vielmehr: Wir hofften darauf. Es könnte noch ohne Licht klappen.

Durch Nacht zu keinem Licht

An einem weiteren Anstieg wollte ich endlich wieder einmal nach vorn. Vor der Spitze ein gelber Fahrer. Irgendwer ruft ihm "hop, hop" zu. Ich sprinte ein wenig zu ihm hin und sage: "Die haben hinten zu Dir 'hop, hop' gesagt!" Er hatte schon nicht mehr den rechten Humor und meinte nur: "Mir doch egal, ich fahre jetzt einfach Rad." Zu zweit fuhren wir ein bisschen vornweg, das war deutlich angenehmer als hinten. Im Wald wurde es bereits unangenehm dunkel und auch kühl. Meine Beleuchtung befand sich im Handgepäck-Auto. Ich hätte sie bei der Pause herausnehmen sollen. Und Martin machte keine "Beleuchtungspause". Einer der wenigen, sehr wenigen Fehler bei der Tour.

Natürlich fuhren wir gleich wieder langsamer, bis das Feld herankam. An der nächsten Kreuzung sagte Martin: "Wir müssen leider 6km zurück, wir haben einen Abzweig verpasst." Das blieb der einzige Orientierungsfehler. Annette (auch für die Route zuständig) erklärte mir danach, wie er zu Stande kam: Künstlerpech, muss ich sagen, dass ist beinahe unausweichlich bei so einer langen und ziemlich komplizierten Wegführung. Die 12km extra brachten uns nicht um. Also zurück, Suchen und Fragen im Ort. Endlich das Aha-Erlebnis, welches Richtungsschild für uns zutrifft. Nun aber hurtig, es wurde dunkel! Annette bestärkte mich in der Hoffnung, heute doch noch das Meer zu sehen. Sie hatte genaugenommen Recht, aber ganz genau genommen irrten wir beide gewaltig ...

Es war wirklich schon verdammt dunkel, außer auf freiem Feld. Zum Glück schaltete eines unserer Autos hinter uns das Fernlicht an, das fuhr sich deutlich entspannter.

In einem Ort überraschte uns eine üble Kopfsteinpflasterstrecke, der Straßenbelag bestand aus Steinkugeln von 10-20cm Durchmesser. Ich kenne noch Schlimmeres, aber meine Kette hatte es dicke und sprang auf das mittlere Blatt. Schalten war bei dem Gelände nicht mehr drin, und so kam ich erst recht nicht vom Fleck. Das konnte zwar sowieso kaum einer, aber bei etwas schnellerer Fahrt wäre es besser gegangen. Bei der nächsten Holperstrecke war der Gang zu groß, und ich hatte wieder das Gefühl, zu stehen.

So langsam setzten Auflösungserscheinungen ein. Die Fahrdisziplin ging allmählich flöten. In einem Dorf geriet mein Vordermann an eine Kante in der Straße und machte einen sehr wilden Schlenker, zum Glück ohne Sturz. Vermutlich hätte ich noch reagieren können, denn wir waren alle sehr angespannt. Aber die Fahrweise wurde deutlich unsicherer. Dann kam einer in einer Kurve an eine Bordsteinkante und stürzte nun doch. Wir waren zu schnell für eine dichte Gruppenfahrt bei Dunkelheit, etwa 30km/h, soweit ich den Tacho mal unter einer Lampe sehen konnte. Und wieder blieb der Sturz ohne Folgen.

Irgendwie klappte das mit dem Warten aufeinander nicht mehr so recht, die Nerven lagen nun teilweise doch schon blank. Nicht so sehr, aber man merkte es. Es gab einen kleinen Streit um die richtige Strecke. Martin setzte sich durch. Er hatte schon Recht: Lieber längere und sichere Straßen als kurz auf der Bundesstraße.

Die Orte hießen alle -hagen: Völkshagen, Mandelshagen, Blankenhagen, Behnkenhagen ... wann hört es endlich auf zu hage(l)n?? Nach jeder Kurve wurde es dunkel, weil uns das Licht des Autos von hinten nicht erreichte. Bei jedem Auto im Gegenverkehr musste er hinten abblenden - dunkel, Licht von vorn, dunkel, Licht von hinten ... Was weiter hinten los war, bekam man nicht mehr mit, schon hier in der Mitte war volle Konzentration angesagt. Zwei Mann hatten Vorderlicht, einige Rücklichter. Die Warnblinkanlage des Autos vor uns beleuchtete die Straße ebenfalls. Dazwischen schemenhafte Gestalten. Man war ständig in hoher Anspannung. Und trotzdem: Auf der Fernfahrt Berlin-Neapel (vgl. meine Homepage) gab es eindeutig gefährlichere Situationen.

Links vorn zeigten sich große Flutlichtstrahler über einem riesigen Gelände voller Autos, musikähnliche Geräusche drangen herüber. Was das genau war, ließ sich nicht gleich sagen, denn vorn spielte unsere Musik, und die war gerade wichtiger.

Das Gelände rückte näher: Es war ein Konzert. Die Musik wurde immer lauter, das Gelände immer noch größer. Schließlich kamen wir direkt heran, obwohl die Lautsprecher sicherlich noch ziemlich weit entfernt waren. Trotzdem dröhnte es unverschämt laut, ein brenzliger Gestank wie nach heißem Öl lag in der Luft. Wir fuhren hinter einem Zaun: Links das taghelle Licht, alles schemenhaft, die Straße dunkel, rechts und links offenbar wenige Fußgänger, dazu noch das mordsmäßige Dröhnen der Musik (wenn man sie denn so nennen darf): Eine beklemmende Szenerie, wie ein böser Traum. Daran werde ich sicher noch nach Jahren denken und unfreiwillig davon träumen. Aber auch hier galt: Ich habe schon Schlimmeres erlebt, die Ausfahrt aus Rom zum Beispiel war zwei Nummern höllischer.

Endlich wurde der Lärm leiser, es ging im Dunkeln weiter. Annette meinte: "Es ist nicht mehr weit, nur noch vielleicht 2 Orte." Im Prinzip hatte sie Recht, sagt Sender Jerewan. Nur im Prinzip. Mit dem Meerblick wird heute nichts mehr! Ich hatte sowieso die Badehose vergessen :-) (aber die Radhose geht auch zum Baden).

Der Unterschied zwischen Prinzip und Praxis: Der eine Ort zählte nicht, bis zum nächsten waren es diesmal 4km (das ist nachts sehr lang!). Der Tacho zeigte unter einer Lampe schon 193km seit dem Rücksetzen. Au Backe, 180km sollten es sein, von wegen 444km am Ende. Aber so einfach ist solch eine Strecke nicht auszumessen. Auch hier kenne ich Schlimmeres. Wir konnten noch, jedenfalls die meisten.

In einigen Dörfern standen Jugendliche an der Straße und trieben uns lautstark an. Das raue Gegröle aus heiseren Kehlen klang aber gar nicht gemütlich. Wie froh waren wir, auf einem Rennrad zu sitzen und schnell wieder weg zu sein. Das Gebrülle und Gejohle wurde immer lauter, je näher wir der Küste kamen. Schön, in einer großen Gruppe zu sein.

Der böse Traum hörte nicht auf, im Gegenteil: Erstmals war unser Ziel auf einem Schild zu sehen: Graal-Müritz ... 11km. So eine SCH----!!! Wir waren doch etwas geschockt.

Auf einer glatten Straße, die nur laut Beschilderung keine Bundesstraße war, ging es nun direkt in Richtung Ziel. Wie lang 11km nachts nach reichlich 450km sind, kann man sich kaum vorstellen. Ständig war Gegenverkehr, ständig musste das Auto hinter uns abblenden. So blinkerte es am laufenden Band: Licht von vorn, Licht von hinten, gar kein Licht, Blink-Rücklichter, dann wieder Licht von hinten mit Schlagschatten und überall blitzenden Metallteilen und Reflektoren im Feld. Seitlich rauschten alte Bäume in einem dichten Wald vorbei. Wenn kein Auto kam, war es fast still. Ein gespenstisches, unheimliches Spiel. Wir fuhren vermutlich mit 30 km/h, alle wollten möglichst schnell durch. Auch das war einer der Momente, die man vermutlich nie vergisst.

Wir wurden doch unkonzentrierter. Es ist sehr schwer, im Dunklen die Spur zu halten. Ich regte mich auch über mich auf, dass ich jedesmal, wenn das Licht von hinten ausging, nach rechts drifte, obwohl ich den Mittelstreifen noch erkennen konnte. Andere erzählten mir danach, es wäre ihnen genauso ergangen. Ein seltsames Phänomen. Naja, Nachtfahrten in der Gruppe sind einfach riskant. Das hält mich doch von Fichkona ab, obwohl es mich ansonsten schon locken würde. Sind 400km die "Grenze der Vernunft" für schnelle Gruppenfahrten? Das ist schwer zu sagen.

Im Ziel

Irgendwann Häuser, offenbar Graal-Müritz. Es war sehr ruhig geworden im Peloton. Fast lautlos huschten wir um die Kurven. Das musste auch auf die Außenstehenden gespenstisch wirken, die Leute guckten alle sehr erstaunt. Nur ein paar Jugendliche mit Bierflaschen in der Hand zogen das übliche Gegröle ab und schrieen etwas von Doping.

Wir fuhren auf die Seebrücke über Holzplanken. Unten zeigte sich der Strand, dann rauschte das Meer. Also war es doch noch etwas geworden mit dem Blick auf das Meer, wenngleich völlig anders als erwartet. Allerhand Angler hatten ihre Plätze dort aufgeschlagen, wir kamen trotzdem problemlos durch.

Am Ende ein Halt, Martin hielt eine kurze Ansprache und dankte allen Teilnehmern. Es war etwa 23.15 Uhr, 18.5 Stunden brutto hatten wir gebraucht für knapp 470km. Die Stimmung war eigenartig: Klar, wir waren am Ziel, aber immer noch nicht da.

Über gutes Kalksandsteinpflaster ging es zurück in den Ort (das Einzige, was mir momentan noch Probleme bereitete, war mein Auspuff). Nach kurzem Suchen bogen wir in die letzte Kurve zum Internat ein, wo Angelika prompt in ein unsichtbares Schlagloch rauschte und einen anderen in den Sturz mitriss. Aber es gab nicht einmal Schürfwunden. Es war nach 23.30, als wir das Internat betraten, wo wir schlafen sollten. Also alles in allem knapp 19 Stunden unterwegs gewesen, davon etwa 16.5 Stunden reine Fahrzeit. Der Schnitt war trotz aller ulkigen Einlagen gegen Ende nur auf 28.9 km/h gesunken.

Am Ziel wusste man, was wir brauchen: Räder abstellen, Duschen kann später werden - erst einmal essen. Inzwischen hatte ich wieder genügend Hunger. Was es gab? Natürlich Nudeln mit Gulasch, diesmal anders gewürzt, aber auch sehr gut. Und Kuchen hinterher (nicht den von uns). Schade, meine Kamera war noch im Handgepäck, einige Fotos beim Einlauf in den Speisesaal wären interessant gewesen für spätere Vergleiche. Aber es ging eigentlich noch. Sogar Angelika hatte durchgehalten, obwohl sie bei 300km nahe am Aufgeben war. Gegenüber ihrem Lebensziel - einem 8000er - war das heute doch nur Spaß ;-) Vielleicht wird ihr nächstes Vorhaben, der Aconcagua, schon härter. "Darauf trainiere ich dann aber." Stimmt. Die allermeisten von uns waren jedoch ohne Frage auf die heutige Tour trainiert, viele hatten sie bereits früher mitgemacht. Manche konnten trotzdem kaum noch essen ...

Das sportliche Niveau war wirklich sehr gut. Vor zwei Jahren soll der Speisesaal vom allgemeinen Wehklagen widergehallt haben, erzählte mein Tischnachbar mit drastischen Worten (er übertrieb offensichtlich gern etwas :-). Nur 6-7 Teilnehmer sollen aufgegeben haben, der Besenwagen war voll. Das alles musste bei Fichkona schlimmer gewesen sein. Und die meisten Teilnehmer konnten auch richtig gut in der Gruppe fahren, das machte schon Spaß. Selbst nach 400km! Jede analoge Veranstaltung mit solchen Leuten und solcher Organisation würde ich sofort wieder mitmachen (OK, woher weiß man das vorher?). Die Altersstruktur war recht gemischt: von 15 Jahren bis hin zu Grauhaarigen. Aber es nahmen deutlich mehr Jüngere teil als etwa bei Supercups, was mich freute: Langzeitausdauer kann doch nicht nur eine Domäne der alten Knacker sein!

Das Internat der Förderschule war super eingerichtet. Neidvoll verglich ich es in Gedanken mit meinen Unterkünften zur Schulzeit. Aber auch heute sieht es bei weitem nicht überall so gut aus - Sitzecken, Holzmöbel, alles sauber und nett.

Wir waren vermutlich zu viert im Zimmer (der Geist schien mir doch etwas verschwommen zu sein um diese Zeit). Nach dem Duschen und Umziehen ging ich 1.00 nochmals hinunter, wo wir ein Fass Freibier bekamen. Ich bin kein Biertrinker, aber es rutschte hervorragend hinunter. Nur ein Zimmerkollege wollte sich für einen Moment hinlegen. Der Moment endete am nächsten Morgen.

Wir quatschten noch eine ganze Weile, es war sehr nett. Ich war gar nicht so müde, offenbar bis unter die Ohren voll mit Endorphinen (nicht etwa Bier!). Besondere Beschwerden hatte ich keine mehr. Die Füße waren abgeschwollen, das Sitzen auf normalen Stühlen machte einem Bürohengst wie mir nichts aus.

2.00 Uhr war ich im Bett und schlief reichlich 6 Stunden lang so tief, dass ich mich am nächsten Morgen tatsächlich ausgeruht fühlte.

Der Tag danach

Am nächsten Morgen folgte ein Frühstück, das das in manchem Hotel deutlich übertraf. An Essen gab es tatsächlich keinen Mangel, die Verpflegung war erstklassig und sehr reichlich. Auch das trug zum sehr guten Gelingen der Fahrt mit bei.

Es folgte eine recht lustige Urkundenausgabe, bei der sich Martin als erstaunlich guter Moderator entpuppte. Am nettesten war wohl die Geschichte von einem älteren Radfahrer, der in Martins Radladen kam und eine Rennmütze haben wollte. Ja, sagte Martin, fünf habe ich noch hier hängen - aber Du siehst ja ziemlich durchtrainiert aus, wieviel bist Du denn schon gefahren? Naja, so 3500km, meinte er (seit Januar, und es war März). Klasse, sagte Martin, wo ist denn Dein Fahrrad? Und das war der Schock - ein "absolutes Kaufmarktgeschoss". Also, so geht das nicht! Mit Deiner Leistung und Deinen Ambitionen solltest Du doch ein ordentliches Rennrad fahren! Gesagt, getan. Nach einiger Zeit trafen sie sich wieder. "Und, wie fährt es sich jetzt?" - "Prima, aber das Tollste ist: Die grüßen mich jetzt alle ..." Der Fahrer machte nicht den Eindruck, als hätte er gestern irgendwelche Schäden davon getragen. Auch unser Kind, der 15jährige, fuhr locker bis zum Ziel und führte viel mit.

Die Zeit raste, 10.00 Uhr war Schnellpacken angesagt. Um 10.30 fuhr ich mit der ersten Gruppe per Rad nach Rostock. Der Blick auf das Meer bei Tag blieb uns leider verwehrt. Aber die Seebrücke nachts war im Nachhinein doch das größere Erlebnis.

Das Wetter war inzwischen wolkenlos und sehr heiß geworden. Bei diesem Klima hätte nicht nur ich gestern große Probleme bekommen. Glück gehört eben auch dazu.

Auf der Gegenspur wartete ein Endlos-Stau fast bis zur Stadtgrenze in Rostock, vermutlich über 10km lang. "Ist doch schön, wenn man früh losfährt und schon nachmittags im Strandcafe sitzt," meinte einer von uns.

12.24 fuhr unser erster Zug. Soweit wie möglich verabschiedete ich mich von vielen neuen Bekannten. Der Zug fuhr gleich durch bis Dresden, sehr fein! Wir stellten die Fahrräder nebeneinander in den Vorderwagen des Interregio. Weil es offiziell nicht genügend Stellplätze pro Zug gibt, mussten wir zwei Züge reservieren. Die zweite Gruppe durfte dafür zweimal umsteigen. Und dann nutzen wir die Stellfläche letztendlich doch nicht vorschriftsmäßig. Was für eine Bürokratie. Vor allem, als eine junge, unangenehme Schaffnerin zwei Radfahrern ohne Diskussion den Zustieg unterwegs verweigerte, weil sie nicht reserviert hatten. Der Schaffner vorher hätte sie hineingelassen.

Es war wirklich sehr heiß, wir mussten die Fenster öffnen und ziemlich brüllen bei dem Lärm. Aber die Stimmung war sehr gut, zahlreiche Witze machten die Runde. Nach fünf Stunden schließlich Verabschiedung in Leipzig. Die beiden einzigen Nicht-Leipziger, Thomas und ich, fuhren weiter und schmiedeten schon Pläne für den Herbst.

In Dresden noch ein Balanceakt mit dem inzwischen wieder 10kg schweren Rucksack. Irgendein junger MTBler, der ziemlich böse guckte, brüllte beim Warten an der Kreuzung neben mir plötzlich unmotiviert und unverständlich los. Zum Glück hatte das offensichtlich mit mir nichts zu tun. So blieb auch der Tagesausklang schön. 19.30 Uhr war ich zu Hause nach 44 Stunden Abwesenheit. Die Erlebnisse dürften die von 44 Tagen Sachbearbeiterdasein in der Margarinefabrik übertreffen.

Nachbetrachtung

Also, das war nach dem Dolomitenmarathon auf jeden Fall die am besten organisierte Veranstaltung, an der ich bisher teilnahm, und ein Riesenerlebnis. Die 100 Euro waren mehr als gerechtfertigt: Mit fünf Begleitfahrzeugen (der Krankenwagen nicht zu vergessen!), Essen, Zugfahrt, Organisation, Übernachtung, Prämien, Fotos und Schönwetterzuschlag eigentlich fast geschenkt. Letztes Jahr ging es mit vielen Sponsoren für nur 70 DM, also dreimal billiger, nachts von Rostock nach Leipzig und soll halb so schön gewesen sein (dafür ziemlich stressig). Lieber mehr bezahlen und richtige Qualität - bei solch gewichtigen Veranstaltungen (die obendrein sehr selten sind) ist das wohl entscheidend.

Kritikpunkte ... ja, gibt es welche ... OK, Cola und Tee hätten wir uns noch gewünscht (auf jeden Fall etwas Kohlensäurefreies), Beleuchtung sollte Zwang sein und bei der letzten Pause montiert werden, und Helmpflicht wäre wohl nicht so verkehrt. Der Verhauer zum Schluss kann einfach mal vorkommen, ebenso eine etwas längere Strecke als in den Routenplanern angegeben.

Tja, und wie geht es mir nun? Eigentlich gut. Es lief praktisch optimal. Das einzige ernste Problem für mich waren die Fußschmerzen, doch ich war vorgewarnt und hatte die alten Schuhe mit, die mich auf den letzten 230km retteten. Meine Sitzprobleme - nicht direkt durch das Radfahren, sondern durch das Essen bedingt - ließen sich verschmerzen. Nach kurzer Behandlung mit Penatencreme war am Sonntag schon wieder alles vorbei.

Seit 30 Jahren war ich nicht mehr in diesen Gegenden gewesen, es war schön. Auch das Wetter spielte sehr gut mit. Und eine Teamgröße von 20 bis 50 Leuten scheint optimal zu sein, wie ich nun schon zum vierten Mal erlebte. Das sportliche Niveau sollte aber gefordert oder genau definiert werden.

Auch die Pausen waren gut gelegt: Nach 70, 160, 255 und 375km sowie zwei kurze Pinkelpausen. Es war nicht leicht, immer 100km am Stück zu fahren, aber geschenkt war die Tour ja sowieso nicht. Dann lieber richtig Pause und erholen (ohne das geht es kaum). So ungefähr 2.5 Stunden kamen inklusive Mittagessen zusammen.

Der Unterschied zwischen 100km und 200km ist wohl am größten: 100km kann man bolzen, 200km muss man fahren. Wer 300km fahren will, darf keine groben Fehler machen (wie auch ich merken musste). Dort geht die wirkliche Langzeitausdauer los, es ist eine neue Qualität. Aber der Sprung von 200km auf 300km ist nicht so groß wie der von 100 auf 200. Und 400km? Geht! Vielleicht schaffe ich das doch einmal allein und ohne Licht. Das scheint mir in unseren Breitengraden die Grenze des Machbaren zu sein, daher reizt mich das. Dieses Jahr ging es nicht, doch die Ostseetour war mehr als ein guter Ersatz. Trondheim-Oslo? Das sollen die Liebhaber von Kälte, Dauerregen und Gegenwind machen. Ich brauch's nicht.

Nächstes Jahr soll Ostsee-Leipzig wieder kommerziell veranstaltet werden, schade. So gut wird es sicher nicht wieder. Doch ich würde gern die Bekannten wiedertreffen, vermutlich rafft es mich doch wieder. Die Sucht ist schon längst da: In 4.5 Jahren war das die 52. Tour mit mehr als 200km, die 6. über 300km, und dieses Jahr bereits die 11. Zweihunderter. Muss ich noch mehr sagen?

Martin hat die Tour nur diesmal organisiert. Wenn er wieder einmal etwas ins Leben ruft, das normale Menschen nicht machen, soll er mir unbedingt Bescheid sagen - versprochen.

P.S.: Man erzählte mir zu Hause, inzwischen wäre die Tour de France zu Ende gegangen. Noch schlimmer - direkt um die Ecke hatte das Guidomobil der FDP zwecks Wahlkampf Station gemacht, das hatte ich nun auch verpasst :-(

Das besagte Konzert war das berühmt-berüchtigte Punkkonzert "Force Attack" bei Behnkenhagen, das dieses Jahr aber recht friedlich abgelaufen sein soll. Stimmt - die Polizisten sahen nicht so beschäftigt aus.

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